Die photographischen Motive Rainer Posserts sind gleichsam „objets trouvés“, (vor)gefundene visuelle Ausschnitte und Sequenzen des alltäglich Sichtbaren. Jede/r hätte – vorausgesetzt man wäre zum gleichen Zeitpunkt auch am selben Ort wie der Photograph gewesen – dieselben visuellen Verhältnisse, dieselben „Sichtbarkeiten“ wahrnehmen können. Rainer Possert verzichtet auf jede manipulative Inszenierung, nichts wird arrangiert oder „zurechtgerückt“ – es geht eher um das bewusste Auswählen optisch-visueller Situationen und Momente, die in der „Bewegung des Sehens“, im Akt des Wahrnehmens meist unbemerkt bleiben. Immerhin besteht das „Rätsel“ des Wahrnehmens gerade darin, einen bzw. einen doppelten „blinden Fleck“ zu haben: Es ist ja nicht möglich wahrzunehmen, wie man wahrnimmt, wenn man wahrnimmt! Und darüber hinaus: Unmöglich ist es auch wahrzunehmen, was man alles nicht wahrnimmt. Eine mögliche Gegenstrategie besteht nun darin, dass der Photograph im Grunde den dynamischen und stets flüchtigen Sehprozess „verzögert“, um dem Sehen selbst Zeit zu geben, um den optischen „Reichtum“ der visuellen Wahrnehmungs- Welt zur Erscheinung zu bringen. Wahrnehmung im Allgemeinen und vor allem das Sehen sind ja im Grunde weitgehend automatisierte Prozesse, die nicht daraufhin orientiert bzw. psychophysiologisch dazu „programmiert“ sind, den optischen Reichtum bzw. die optische Informationsdichte in all ihren Einzelheiten und Differenzierungen zu repräsentieren – im Gegenteil: Wahrnehmungsprozesse sind dafür programmiert, die gegebene Informationsflut nicht zu einem „information overload“, d. h. zu einer Reizüberflutung werden zu lassen. Wahrnehmung bedeutet eben immer auch eine Reduktion und Minimierung der Wahrnehmungsdaten: Sehen heißt „Über-Sehen“! Das menschliche Sehen ist ein hochselektiver Prozess, der vor allem auf das (scheinbar) Wesentliche des alltäglichen Lebens (und nicht ästhetischer Gesichtspunkte) gerichtet ist. Man kann auch sagen, dass unsere alltägliche Wahrnehmungsautomatik ein erlerntes Nicht-Wahrnehmen der optischen Vielfalt, der scheinbar unwichtigen Nuancen der Welt ist. Allein schon durch den Mechanismus einer dauerhaften Repräsentation der allzu flüchtigen visuellen Erscheinungen – dieses berühmte „Anhalten“ des zeitlichen Moments als ein zentraler Aspekt des photographischen „punctum“, wie es Roland Barthes nannte (vgl. „Die helle Kammer“) – ermöglicht die photographische Technik neue und manchmal bessere „Sichtbarkeitsverhältnisse“. Die Konzentration auf Unbeachtetes und/oder unbewusst bleibende visuelle Aspekte ist für Rainer Possert darüber hinaus auch eine Gegenstrategie zur „visuellen Vermüllung“ im Zeitalter audiovisueller Medien, die scheinbar alles und jede/n in eine Art photographisch-filmische „Überbelichtung“ zerren – eine Überbelichtung, die metaphorisch wie auch technisch-praktisch eine Bilderflut erzeugt, deren Auswirkungen auf unser visuelles Wahrnehmungsvermögen Paul Virilio als „Dyslexie des Sehens“ bezeichnet – die medial hochgerüstete und überflutete menschliche Wahrnehmung wird immer oberflächlicher und verzerrter bzw. kann schließlich das Gesehene nicht mehr in entsprechende Kontexte setzen: Was bleibt sind lediglich optische Effekte und Stimuli! Dem stellt Rainer Possert eine photographisch „konzentrierte“ Wahrnehmung gegenüber, die sich an alltäglichen, einfachen und deshalb oft „übersehenen“ Sujets als Ausgangsmotiven orientiert: Rostender Schrott in seinem strukturell- chromatischen „Ausblühen“, dessen Gegenständlichkeit sich in einer formal-ästhetischen Komposition „auflöst“, ermöglicht einen veränderten Wahrnehmungsprozess – Müll wird zum Anlass ästhetischen Erlebens. Eine als Abdeckung benützte milchig-transparente PC-Folie wird in Kombination mit einem einfachen Rohrgestänge zum „Spiel“ eines Lichteffekts. Einfachste Materialien und unscheinbarste Momente finden sich zum ästhetischen Phänomen transformiert. Der photographische Blick in den Innenraum der mit Baugerüsten technischkonstruktiv „strukturierten“ Kirche lässt gleichsam zwei historische Epochen aufeinanderprallen. „Liest“ man die konstruktive Geometrie des Gerüstes als technische Fortsetzung der Renaissance, die in der klaren perspektivischen Quadratur des Kirchenbodens gegeben ist, so stößt man in der Gewölbearchitektur und -malerei auf die barocke Dynamik des anamorphotischen „Scheins“ als historisches Gegenkonzept. Kaum deutlicher kann das geometrisch-konstruktive Paradigma der Renaissance, das sich einerseits in unserer Technik (als Erbin des mechanistischen „Weltbildes“) und andererseits im Medium der Photographie (Erbin der geometrischen Perspektivkonstruktion) fortsetzt, aber durch das Illusionsspiel des Barock „relativiert“ wurde, zum Ausdruck kommen. Für den Barock-Künstler war die Wirklichkeit nur mehr eine Frage der Sichtweise – analog zur Tatsache, dass die Sichtweise des Photographen erst die Wirklichkeit hervorbringt!