Ingrid Niedermayr beschäftigte sich in den letzten Jahren vor allem mit dem Genre der Architekturzeichnung und Architekturmalerei. In den in Stift Rein entstandenen Arbeiten setzt sie sich mit dem Versuch auseinander, ihre Formensprache zu öffnen, d. h. Weite und Unbegrenztheit malerisch zu erfahren und umzusetzen. Für jede künstlerische Darstellungsform stellt sich dabei eine grundsätzliche Problematik: Wie lässt sich „Unbegrenztes“ auf einer begrenzten Fläche repräsentieren? Die Ab- und Begrenzungen der bildlichen Trägerform müssen in der Darstellungsform überschritten und gleichsam „entgrenzt“ werden. Eines der ersten und gleichzeitig bedeutendsten kunsthistorischen Beispiele der Thematisierung und bildlich-malerischen Darstellung des Unbegrenzten, wenn nicht Unendlichen, ist sicherlich in Casper David Friedrichs „Mönch am Meer“ gegeben. Damit bringt C. D. Friedrich die neuzeitliche „Entdeckung“ des Gedankens der Unendlichkeit durch Nicolaus Cusanus und Giordano Bruno erstmals zu einer bildnerischen Repräsentation. Obwohl das Konzept des Unendlichen mit der Entwicklung der „Fluchtpunktperspektive“ in der Renaissance bereits vorweggenommen wurde, stellt diese Konstruktion die Idee des Unendlichen ja noch nicht explizit dar, sondern impliziert sie lediglich stillschweigend als ihr (unsichtbares) Konstruktionsprinzip. Es brauchte noch Jahrhunderte bis der Gedanke des Offenen, Unbegrenzten und Unendlichen zu einem Inhalt der menschlichen Reflexion wurde. Jedenfalls manifestiert die Idee einer Darstellung des Unbegrenzten und Unendlichen jenes Prinzip, das J.-F. Lyotard in Anlehnung an Kant in seiner Ästhetik der postmodernen Kunst als „Darstellung des Undarstellbaren“ beschreibt – denn das Offene, Unbegrenzte und Unendliche ist in Wahrheit ja nicht darstellbar. In diesem Sinne öffnet die Malerin den „unendlichen“ Raum einer Seeansicht, indem sie den begrenzenden Ufersaum mit den Konturen einer Baumreihe und eines umrisshaften architektonischen Elements an den äußersten oberen horizontalen Bildrand verlegt, während der überwiegende Bildraum als teilweise spiegelnde Eisfläche dem Betrachter gleichsam entgegenstürzt. Derart wird der Blick beinahe unwiderstehlich in den blauen „Grund“ der Tiefe („dergrundunteralldem“!) gezogen. Sollte der Betrachter bzw. die Betrachterin versucht sein, sich diesem Sog zu entziehen, indem man gleichsam über den Horizont hinaussehen möchte, so „scheitert“ der Blick an der extrem erhöhten Horizontlinie und man findet sich wieder in die blaue Tiefe des Gewässers verwiesen. Das Unbegrenzte findet sich hier weniger im Blick „über die Dinge hinweg“ als vielmehr in der Grenzenlosigkeit des „gefrorenen“ Blaus. Selbst in jener Arbeit, die das Ufer in einer zentralen Horizontlinie verankert und damit den See- und Himmelsbereich in einem ausgeglichenen Flächenverhältnis darstellt, verschmilzt die gesamte Bildfläche doch eher zu zwei Spiegelungsflächen, die den schleierwolkigen Himmel in die Eisfläche und die Eisfläche wieder in den Himmel spiegelt. Obwohl sich der Grenzbereich zwischen See und Land in zarten graphischen Strukturierungen angedeutet findet, öffnet er sich doch durch die Aussparung der „Körperlichkeit“ der Gegenstände am Ufer. Die malerisch-graphische „Auflösung“ und Reduktion der Gegenständlichkeit erweist sich letztlich als Suche nach den grundlegenden Strukturen einer „offenen“, beinahe transparenten malerischen Darstellung.