Der Mensch gestaltet und formt nur scheinbar „leere“ Räume, in Wahrheit sind sie schon immer kulturell und symbolisch geprägt. Dennoch wirkt der Raum als Vorgegebenes, in dem sich der Mensch scheinbar „natürlich“ bewegt, so dass das Moment der kulturellen und geschichtlichen Formung und Strukturierung – sei es ideell oder materiell durch Architekturen und (kultivierte) Landschaftsformen – kaum bewusst wird. Obwohl man sich einem „neutralen“ Raum gegenüber wähnt, ist das sog. „An-sich“ des Raumes in seiner abstrakten Dreidimensionalität (ob „absolut“ im Sinne Newtons oder „relativ“ im Sinne Einsteins sei hier offen gelassen) im Grunde unvorstellbar. Und tatsächlich: Die sinnliche Erfahrung des Phänomens „Raum“ ist immer „konkret“, d. h. an das grundlegende Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung gebunden. Was der Raum „ist“, sagen uns die Sinne – selbst dem Auge, dem in seiner spezifischen Qualität „abstraktesten“ Wahrnehmungsorgan, ist die ideelle Unendlichkeit des Raumes nicht gegeben. Auch für den visuellen Sinn ist der Raum nur durch eine Begrenzung in Form des so genannten „Sichtbarkeitshorizontes“ wahrnehmbar. Für den Tastsinn ist dieser Raum gar nur in Form seiner „Widerständigkeit“ erfahrbar – in die Entwicklung der kindlichen Motorik ist die Wahrnehmung der umgebenden Objektwelt durch den „Widerstand“ der Dinge, auf den der körperliche Bewegungsdrang stößt, geprägt. Jeder Mensch nimmt den Raum vor allem in seiner Begrenztheit durch andere Raumobjekte wahr. Durch diese sinnlich erfahrbaren Begrenzungen formt sich der amorphe, indifferente Raum, er erhält eine fundamentale Struktur und Differenzierung – er wird zu einer Wahrnehmungsgestaltung des Menschen, die paradoxer Weise als naturgegeben erscheint. Der Raum wird aber umso mehr zu einer Gestaltung des Menschen, je stärker der Mensch durch kulturelle Leistungen in ihn eingreift, ihn umformt, ihn durch Architekturen neu definiert bzw. durch sie neue Lebensformen ermöglicht. Vor allem anhand der architektonischen „Zeugnisse“ wird die Geschichtlichkeit und Veränderlichkeit der menschlichen Lebensräume offenkundig, aber auch die Frage, inwieweit Älteres „bewahrenswert“, Bestehendes erhaltenswert ist oder ob es Neuem Platz machen soll. Die malerisch-graphische Bildgestaltung Josef Niederls könnte man im Vergleich dazu ebenfalls als Auseinandersetzung mit einem zunächst amorphen, indifferenten Bildraum sehen. Durch einen tachistisch-aquarellistischen Farbauftrag formen sich zunächst Farbflächen-Gebilde, die durch Abrinn-, Bewegungs- und Trocknungsspuren ihre vorläufige, meist noch abstrakte Strukturierung finden. Die zunächst tiefenlose und unbegrenzte Fläche des Malgrundes erhält damit eine grundlegende, in Farbformen und auch Farbräume gegliederte Gestaltung. Aus diesen teilweise „zufälligen“ Farbflächen lässt Josef Niederl nun assoziativ figurale bis gegenständliche Motive entstehen – seien es nun schwach skizzierte architektonische Formen oder auch menschliche Figuren. Die Farbe wird dabei als Element der Flächengestaltung nicht primär zum bloßen „Ausfüllen“ vorskizzierter Konturen verwendet, sondern die Figur, die graphisch umrissene Form, entsteht weitgehend den Möglichkeiten der Farbverteilungen entsprechend. Thematisch verweisen die architektonischen Motive oder auch das Sujet arbeitender Menschen, die einen alten Firstdeckziegel zu „bergen“ scheinen, auf die Auseinandersetzung mit der Frage der Gestaltung menschlicher Lebensräume (etwa in Form eines Hauses oder als ein durch hohe Mauern geformter Weg) im Spannungsfeld von Bewahrung und Vernichtung, Abbruch und Restaurierung.