Erwin Fiala (Mag. Dr. phil., Kurator, Medienwissenschaftler):
(…) wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng (…) lässt schaufeln ein Grab in der Erde (…) wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng …
Diese Zeilen bilden ein unendlich geflochtenes Papierband, das Walter Kratner auf einer alten Schreibmaschine schrieb und überschrieb. Ein unendliches Band an Gräbern – in den Lüften und in der Erde, in der Erde und in den Lüften … Erde und Himmel finden sich verbunden durch eine Möbius-Schleife des Todes … „dein goldenes/ Haar Margarete/ Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den/ Lüften da liegt man nicht eng/“
Walter Kratner greift das Thema „Erde“ gleichsam von jener „anderen“ Seite auf, die heute immer mehr in Vergessenheit zu geraten droht. Der Begriff der Erde ist auch mit jener Blut- und Bodenideologie des NS-Regimes verhaftet, in deren Namen Millionen Gräber in den Lüften und in der Erde „geschaufelt“ wurden. Aber die Spuren der Geschichte verlöschen, sie werden seltener, sie werden zitiert und zu einer perversen Art „Disney World“, medial aufbereitet und verfälscht, de- und rekontextualisiert, schließlich bis zum Verlust jeder Aussage „relativiert“ oder gar völlig geleugnet. Geschichtliche Ereignisse verlieren gerade durch ihre historische Aufarbeitung oftmals ihre Authentizität und ihre Unmittelbarkeit. Jedes Ereignis schlittert in eine seltsame geschichtliche Fiktionalität, in eine imaginäre Realität der bloßen Erinnerung – für „Nachgeborene“ (Ingeborg Bachmann) in eine erst zu konstruierende historische Realität. Wenn, dann bleiben nur Spuren, die auf das Eigentliche lediglich verweisen können – Zeichen, nichts als Zeichen des Vergangenen. Die Frage ist, wie diese Zeichen und Spuren „gelesen“ und „interpretiert“ werden. Der Konzept-Künstler Walter Kratner weiß, dass sich die Geschichte nicht „offenbart“, sondern im Gegenteil, dass die „Wahrheit“ der Geschichte eine Frage ihrer Tradierung, ihrer Archivierung, ihrer Interpretation und anamnetischen Revozierung im individuellen und kollektiven „Wissen“ ist. Das sogenannte „historische Bewusstsein“ benötigt selbst ein Konzept, das nicht nur dem völligen Vergessen entgegenwirkt, sondern auch der allgegenwärtigen Verfälschung durch Unwissen und Unbildung widersteht. In zwei vorhergehenden Kunstprojekten, die sich mit der Frage des Vergessens und Erinnerns historischer Ereignisse konzeptuell beschäftigten, finden sich bereits „Teile“ der vorliegenden Installation: so die Schreibmaschine seines Vaters, mit einem beschriebenen Papierband in der Einzugsrolle, Schaufeln seiner Eltern … und Zitate der „Todesfuge“ Paul Celans. In den Notizen zu einer dieser früheren Arbeiten zitiert der Künstler eine Aussage Paul Celans zur „Rezeption“ der Todesfuge, die die Problematik allen historischen Erinnerns andeutet, wenn Celan meint, dass seine „vielbeschworene Todesfuge (…) nachgerade schon lesebuchreif gedroschen“ worden sei. … Und wurden Auschwitz und das NSRegime nicht ebenfalls „lesebuchreif gedroschen“ (verharmlost, zu Tode „erklärt“, zur Lächerlichkeit interpretiert und schamlos „entschuldigt“ … )? Auch Walter Kratner thematisiert die Gefahr, durch zuviel Information das eigentliche „Ereignis“ bis zur völligen Inhaltsleere wegzuinterpretieren. In der Bilder- und Informationsflut, die sich teilweise (großteils?) unerwünscht über die Nachgeborenen als „Aufarbeitungszwang“ einer untilgbaren Schuld nach dem 2. Weltkrieg ergoss, ergab sich ja letztlich ein paradoxes „Informationsrauschen“, das effizienter als jedes Vergessen die historische Wahrheit des Faschismus weginterpretierte. Diesen Effekt des „Löschens“ der eigentlichen Information durch zuviel an Information zeigt der Künstler anhand der beidseitigen und jeweils zweifachen Überschreibung der mühsam mit einer alten Schreibmaschine getippten Zeilen aus Celans Todesfuge, die sich scheinbar unendlich wiederholen. Manche der Buchstabentypen „durchlöchern“ im wahrsten Sinne des Wortes bereits Geschriebenes, andere tilgen die Worte durch zuviel Farbauftrag … würde man weiterschreiben, bliebe nichts als zerfetztes, druckerschwarzes Papier ohne jegliche erkennbare Information. Dieser Informations-Entropie setzt Walter Kratner die geschichtliche „Authentizität“ jener Gegenstände und Objekte entgegen, die den angesprochenen historischen Ereignissen zumindest zeitlich entsprechen – sei es nun in Form der Schreibmaschine oder als alte Schaufel. Gleichsam als Anspielung auf die unlösbare „Schuldfrage“ sind dem Schriftband drei Bajonette mit verdeckten Klingen unterlegt, während die billige Alubauleiter sinnfällig die Verbindung zu unserer Zeit bildet – eine Verbindung, die trotz Vergessen und Informationsrauschen wohl für alle Zukunft bestehen bleiben wird