25421 Begriffe in alphabetischer Ordnung, Begriffe, die einer Populär-Enzyklopädie entnommen und in Form eines indifferenten, homogenen Textblocks abgeschrieben bzw. abgetippt und so in einem Bild visualisiert sind. Noch bevor der Prozess der Dechiffrierung, also des Lesens beginnt, wird das Geschriebene, d. h. die Schriftlichkeit als graphisches Phänomen per se, als visuelles Bildphänomen, erkenn- und erfahrbar. Auf einer fundamentalen Ebene sind Schriftzeichen primär Bildzeichen, Schriften sind graphische Bilder, bevor ihre abstrakten und arbiträren Formen (im Falle des so genannten phonetischen Alphabets) mit konventionellen Bedeutungen (als Sinneinheiten) bzw. akustischen Lauten, den Phonemen, assoziiert werden. Die Inszenierung der Schrift als Bild ermöglicht eine ästhetische Wahrnehmungsweise des Skripturalen, die im Begriff des „Schriftbildes“ konnotiert wird – ein Aspekt, der nur mehr in der Praxis der Kalligraphie besondere Beachtung erhält. In der europäischen, d. h. typographisch und massenmedial geprägten Kultur, wurde der ästhetisch-visuelle Aspekt der Schrift zu Gunsten der rein informationsvermittelnden Funktion „entwertet“ und missachtet, nicht zuletzt um die Vermittlung der Inhalte, also der Informationen bzw. des Wissens, „objektiv“ erscheinen zu lassen. Und gerade hier setzt die Arbeit Ulli Wagendorfers an. Es geht ihr um eine (kritische) Hinterfragung der Wissensvermittlung, wie sie etwa im Konzept bzw. der Ideologie einer Enzyklopädie zum Ausdruck kommt. Enzyklopädien sind letztlich ja Ausdruck einer Buch- und Schriftkultur, die in der Erkenntnis der Welt selbst wiederum auf eine Schrift- und Buchmetapher zurückgreift, etwa in Form des „Buches der Schöpfung“ (Genesis) oder in jener des „Buches der Natur“ bei Galileo Galilei, das nunmehr in einer anderen Schrift verfasst sei als das Buch der Schöpfung. Das „Buch der Welt“ ist eine Metapher, die weit in die jüdisch-christliche Geschichte zurückreicht.
Kulturgeschichtlich zeigt sich, dass die Welt als Text interpretiert wird, der sich in Texten über die Welt abbildet – in Offenbarungstexten, in Bibliotheken und eben auch in Enzyklopädien. Damit verbunden ist selbst für populärwissenschaftliche Enzyklopädien die Ideologie der objektiven und vollständigen Wissensvermittlung. Die Lektüre einer Enzyklopädie lässt aber erkennen, wie sehr sich dieser „Absolutheitsanspruch“ z. B. angesichts der Selektion von Begrifflichkeiten relativiert. Zwischen jenem der alphabetisch gereihten Begriffe gibt es meist eine Anzahl weiterer Begriffe, die (aus welchen Gründen auch immer) einfach fehlen und nicht expliziert sind. Diese Leerstellen zeigen sich besonders im historischen Vergleich, im Fehlen jener zahllosen Begriffe, die etwa deshalb nicht aufscheinen (können), weil es sie zur Zeit der Abfassung entweder noch nicht gab oder weil sie für den europäischen Kulturkosmos und deren Autoren schlichtweg keine Bedeutung hatten. Hier zeigt sich für Ulli Wagendorfer sowohl die Kontextabhängigkeit als auch die geschichtliche Relativität von Wissensformen – vor allem wenn sie mit universalistischem Anspruch einhergehen.
In analogem Sinne eruierte Ulli Wagendorfer auch persönliche, individuelle Stilkomponenten der Verfasser oder auch Textpassagen, die derart allgemein formuliert waren, dass sie eher als „Füllmaterial“ wirken denn als informativ-erklärende Passagen eines Lexikons. Umgekehrt zeigt sich der selektive und sinnrestriktive Modus auch darin, dass im Falle von Begriffserklärungen viele Bedeutungsebenen ausgeblendet bzw. verschwiegen werden. Letztlich beweist dies, dass die Art und Weise jeder Wissensvermittlung tiefe Zäsuren des Wissens hinterlässt, die sich auch auf sprachlicher Ebene analysieren lassen. So versteht sich die vorliegende Arbeit nicht zuletzt auch als Prozess einer Sensibilisierung gegenüber einer nur scheinbar neutralen und objektiven Schrift- und Sprachkultur. Eine Intention, die bereits durch den Titel angedeutet wird. Die bewusste Missachtung der orthographischen Regeln verweist auf die potentielle Polysemantizität und damit fruchtbare „Uneindeutigkeit“ als „Phantasie“ jeder Sprache. Evident werden die Brüche innerhalb der Wissensvermittlung insbesondere in Form der monotonen und meist falsch intonierenden akustischen Wiedergabe der Begriffsliste durch ein Leseprogramm, das in einem vollkommen mechanisierten Rhythmus die sprachliche Prosodie vollständig missachtet und dadurch das rasche bzw. korrekte Verstehen erschwert.
Ihren Abschluss findet die Auseinandersetzung mit den Sinnbildern der klassischen Buch- und Wissenskultur durch die Paraphrase eines „Kastens“, der mit seinen geöffneten Türen die Assoziation eines Bücherregals als „Wissensspeicher“ evoziert – und diese Wissensspeicher sind letztlich gemäß der Anordnung und Art der darin aufbewahrten Bücher oftmals auch Spiegelbilder der individuellen und damit ebenfalls relativen Wissenskultur – so viele universalistische Enzyklopädien auch immer darin Platz finden mögen!